Kompositbogen des Khan
Das Lager lag ruhig und verlassen da, als Temüdschin seine Jurte verließ und auf den staubigen Platz hinaustrat. Das Lagerfeuer knisterte und sein Flackern ließ die Schatten der schlafenden Wächter, die darum saßen, tanzen. Temüdschin fröstelte leicht ob der Aufgabe, die das Schicksal ihm gestellt hatte und die ihn in dieser Nacht entweder zum mächtigsten Mann der Nomadenstämme machen oder ihn umbringen würde. Die Schamanen hatten in ihrer Trance gesehen, dass nur der Bezwinger des Schreckens von Tian-Shan in der Lage wäre, die Mongolen zu einen. Temüdschin war daher losgezogen, seinen Stamm über Monate hinweg tausende Kilometer bis zu der Stelle zu führen, an der sie jetzt lagerten.
Temüdschins Stiefel knirschten im Sand der Taklamakan, als er sich vom Lager entferne und sich auf den Weg zum Gebirge Tian-Shan machte. Er trug Hosen aus Leder, einen ledernen Schuppenpanzer, der mit Eisennieten besetzt war, sowie schwarze Handschuhe. Als Waffen hatte er für diese Expedition seinen besten Kompositbogen, zwei Dutzend Pfeile und ein langes, eisernes Messer ausgewählt, das ihn bis jetzt weder bei Scharmützeln mit anderen Stämmen noch in Zweikämpfen mit Konkurrenten um die Führung des Stammes im Stich gelassen hatte. Das Messer funkelte im fahlen Licht des Mondes wie einer der Edelsteine, welche die Mongolen auf einem Raubzug ins Land der Jin erbeutet hatten.
Jetzt, da Temüdschin sich weit genug von den Jurten seines Stammes, der hier am Rand der Taklamakan für ein paar Tage bleiben und dann weiterziehen wollte, entfernt hatte, gelangten die Geräusche der Steppe lau an seine Ohren: im Sand raschelten allerlei Eidechsen, der Wind wogte durch das gelbe Gras. Als Temüdschin gen Himmel blickte, sah er den Mond klar und genau über sich aufleuchten, umgeben von funkelnden, glänzenden Sternen; dies war die Nacht, das Schicksal der Mongolen und sein eigenes stand auf Messers Schneide.
Temüdschin erreichte den Fuß des Gebirges Tian-Shan, fast eine Meile vom Lager des Stammes entfernt, dessen Lichter in der Ferne glitzerten. Ein schmaler Gebirgspfad schmiegte sich in engen Windungen an den Berg und schlängelte sich in die Dunkelheit davon. Temüdschin merkte, dass er zitterte; auch wenn er ein starker Krieger und fabelhafter Reiter war, konnte er dieses Zeichen seiner Angst nicht unterdrücken. Langsam begann er den Aufstieg.
Als der Morgen hereinbrach, hatte Temüdschin den Berg, der schließlich nur einer der Ausläufer des Tian-Shan-Gebirges war, schon überquert und den nächsten Berg erreicht, den Hantengri Fen. Dies war das eigentliche Ziel seiner Reise: auf diesem Gipfel hauste der Schrecken, der bisweilen von seinem Berg hinunter stieg und die Stämme in der Nähe des Tian-Shan und in der Taklamakan in Angst versetzte. Niemand hatte ihn je gesehen, nur seine Opfer waren verschwunden und man konnte froh sein, wenn man überhaupt noch etwas von ihnen fand. Und dieses Wesen sollte er, Temüdschin, Anführer eines kleinen Stammes von Mongolen, besiegen!
Während er den Hantengri Fen bestieg, wurde langsam die Luft dünner; es war ein furchtbares Gefühl und Temüdschin glaubte, er könne nicht mehr atmen. Nach einer Zeit jedoch hatte er sich daran gewöhnt. Er hatte noch nicht einmal die Hälfte des Berges erklommen, als er mit einem Aufschrei sah, dass die Sonne bereits den Horizont erreicht hatte. Das Monster konnte ihn bestimmt mit Leichtigkeit in der Dunkelheit überraschen! Hastig zog Temüdschin seinen Feuerstein hervor und nahm die mit öligen Lappen umwickelte Fackel von seinem Gürtel, die er vorsorglich eingesteckt hatte. In seiner Panik schaffte er es erst nicht, sie zu entzünden, doch endlich sprang der Funke über. Temüdschin nahm die Fackel in die linke Hand, in die rechte sein Messer. Den Bogen könnte er nur beidhändig benutzen.
Langsam, mit dem Schein der Fackel den Weg erhellend, stieg Temüdschin weiter. In seinen Gedanken war nur Furcht. Jeder vertrocknete Strauch, der in den Lichtschein der Fackel kam, ließ ihn voller Angst zusammenzucken. Ihm kam es vor, als seien seine Schritte auf dem schwierigen, felsigen Untergrund viel zu laut, als hallten sie noch kilometerweit bis zum Versteck der Bestie.
Dann tauchte auf einmal die Höhle auf, ein großes, schwarzes Loch in der Felswand. Der Weg verbreiterte sich an der Stelle, ein Gewirr von weißen Sträuchern war darauf gewachsen, sodass es fast wie die Wiese vor einem chinesischen Tempel aussah, den der Stamm einst überfallen hatte. Temüdschins klamme Finger krallten sich um den Dolch, während er langsam auf die Aushöhlung in der Wand des Berges zutrat, Schritt für Schritt, die lodernde Fackel hocherhoben. Sein Atem ging stoßweise. Sein Kopf rief ihm zu, er solle weglaufen, die Prophezeiung der Schamanen vergessen, doch seine Füße kümmerten sich nicht darum und brachten ihn unbarmherzig seinem Tod näher.
KNACK!
Das plötzliche Geräusch ließ Temüdschin innehalten, sein Herz schien auszusetzen, bis sein Verstand ihm sagte, dass das Geräusch von dort gekommen war, wo er stand. Von unten. Temüdschin riskierte einen kurzen Blick zu Boden und was er sah, ließ ihn aufkeuchen: der Boden war übersät mit Knochen, die er zuvor für eine Pflanze gehalten hatte. Auf einen von ihnen war er getreten. Die Knochen waren grauenhaft zugerichtet, die Schädel gespalten, die Rippen von den Wirbelsäulen gelöst und wahllos verstreut, allesamt zerbrochen, damit ihr Angreifer auch noch an das Mark heran kam, die Oberflächen schartig von dem Zuschlagen gewaltiger Krallen.
Temüdschin wagte es, sich die Knochen für einen Moment genauer anzusehen: An keinem hing noch irgendein Stück Fleisch, was bedeutete, dass das Monster entweder alles von den Knochen riss oder schon lange nichts mehr gefangen hatte. Beides keine guten Möglichkeiten. Temüdschins Blick wanderte über das Gebilde aus Gerippen bis zur Höhle. Und stockte. Zwei rote, böse Augen mit einer grauenhaften, gelben Iris leuchteten in der Schwärze und starrten Temüdschin grausam an, wie ein Jäger, der ein wehrloses Opfer nur noch zu töten braucht.
Temüdschin verharrte. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Das Wesen, was auch immer es war, wartete, lauerte auf den richtigen Moment zum Angriff. Kaum merklich senkte sich das Augenpaar in der Schwärze. Temüdschin wusste, was das bedeutete, er hatte es oft genug bei den Wölfen der Inneren Mongolei beobachtet, die auf der Jagd waren. Dennoch reagierte er nicht, er war vor Schock wie gelähmt, seine Stiefel klebten am Boden.
Das Wesen sprang. Ein mächtiger, schlanker, grauer Leib, lang wie zwei ausgewachsene Männer, schoss aus der Dunkelheit genau auf Temüdschin zu. Er sah noch die Krallen an den Vorderbeinen des Wesens aufblitzen, warf sich zur Seite, doch es war schon zu spät: Das gewaltige Wesen prallte gegen seine linke Schulter, die Krallen des Wesens schlitzten seinen Stiefel auf und Temüdschin wurde beiseite geschleudert. Die Fackel wurde ihm aus den Händen gerissen, wirbelte durch die Luft, fiel zurück zu Boden und blieb zwischen ihm und dem Ungeheuer liegen. Temüdschin prallte in einen Haufen Knochen, die klirrend auseinanderstieben.
Trotz der Panik, die ihm die Luft abschnürte, gewann der Verstand des Kriegers in Temüdschin die Oberhand. Er rappelte sich hoch, trat zwei Schritte zurück und fokussierte dann seinen Angreifer:
Es war ein Wolf, allerdings kein gewöhnlicher. Das Licht der Fackel fiel auf sein mordgierendes Gesicht, Geifer troff in Fäden aus seinen Lefzen auf die Knochen seiner Opfer. Seine Reißzähne mussten so lang sein wie Temüdschins Hand, seine Beine so dick wie junge Baumstämme. Als Temüdschin den Kompositbogen von seinem Rücken ziehen wollte, seine letzte Chance, hatte er nur noch gesplitterte Holzstücke in der Hand. Er warf sie beiseite und packte den Dolch in seiner Rechten fester. Dennoch trat er dem Wesen, das gerade die Fackel umrundete und jetzt bedächtig auf ihn zu schlich, entgegen. Die Bewegungen des Wolfes waren geschmeidig und kraftvoll und von einer gewissen Eleganz, die nicht zu einer Bestie wie dieser passte. Es konnten nur noch wenige Schritte zwischen Temüdschin und dem Riesenwolf liegen.
Temüdschin sah die Attacke kommen, ließ sich zur Seite fallen und riss gleichzeitig den rechten Arm mit dem Dolch hoch. Er spürte, wie die Waffe auf Widerstand traf, der Wolf heulte laut auf und dann lief etwas Warmes über Temüdschins Hand. Doch Temüdschin konnte sich nicht lange über diesen kleinen Sieg freuen. Der Riesenwolf stürzte sich auf ihn, seine Kiefer schnappten wütend nach dem Dolch, zerbrachen ihn in zwei Teile und eine seiner Krallen riss Temüdschins linke Schulter auf. Mit der behandschuhten Faust hieb er nach der Schnauze des Wolfs und er schaffte es in einer übermenschlichen Anstrengung, das malmende Gebiss des Wolfes von sich wegzudrücken. Ein Tritt in die Flanke seines Gegners ließ den Wolf schmerzvoll jaulen, sodass Temüdschin Zeit bekam, von ihm wegzukriechen. Verzweifelt sah Temüdschin sich um: Das Ungeheuer blockierte den Fluchtweg den Berg hinunter und Temüdschin wäre ohnehin nicht schnell genug gewesen, um zu Fuß zu entkommen. Dasselbe galt für den Weg weiter bergauf. Er konnte also nur in die Höhle kriechen, wo vielleicht noch die Waffe eines der Opfer lag. Eine erbärmlich geringe Chance.
Hektisch kroch Temüdschin von dem Wolf weg, der grollend die Wunde an seiner Flanke säuberte. Er wusste, dass seine Beute ihm nicht entkommen konnte, deshalb hatte er Zeit. Temüdschin hatte die Höhle erreicht und bewegte sich rückwärts hinein, während der starrende Blick der roten Augen auf ihm lastete. Seine Finger stießen unerwartet auf einen schlanken Gegenstand, der eine Waffe sein konnte. Temüdschin riss das Ding hervor und erkannte, dass es ein Bogen war, ein Kompositbogen, der zwar alt, aber immer noch in Schuss war.
Der Wolf hatte sich unterdessen aufgerichtet und hatte sich zum Sprung geduckt. Er würde nicht mehr versuchen, mit seiner Beute zu spielen, dazu war sie zu gefährlich, sondern sie mit einem raschen Angriff auf den Hals sofort töten.
Irgendetwas gab Temüdschin trotz der Wunden, aus denen er blutete, die Kraft, einen Pfeil aus seinem Köcher zu nehmen und ihn ruhig auf die Sehne des fremden Bogens zu legen.
Der Riesenwolf sprang und Temüdschin ließ gleichzeitig den Pfeil los, sodass er dem Wolf entgegenzischte. Er sah nicht mehr, ob er getroffen hatte, denn das Ungeheuer prallte gegen ihn und die Kämpfenden stießen gegen die hintere Felswand der Höhle. Temüdschin sah die glänzenden roten Augen mörderisch über seinem Gesicht aufblitzen und schloss in Erwartung des Endes die Augen.
Doch es kam nicht. Der Wolf war tot.
Wie Temüdschin die Augen öffnete, war das erste was er sah, Licht. Die Sonne tauchte hinter dem Horizont auf und aus der Nacht war der neue Morgen geboren. Und er sah noch etwas: Deutlich ragte der Schaft seines Pfeils aus dem Rachen des Wolfs. Er hatte seinen Schädel glatt durchbohrt. Temüdschin hatte das Ungeheuer von Tian-Shan besiegt, er war der rechtmäßige Herrscher aller mongolischen Stämme, er würde sie einen! Temüdschin trat hinaus in die sterbende Nacht und machte seiner Freude Luft, indem er ohrenbetäubend schrie. Taumelnd vor Glück fiel ihm erst jetzt wieder der Bogen ein, mit dem er den Wolf getötet hatte: Er hielt ihn noch immer in der Hand.
Es war ein fein gearbeiteter Kompositbogen aus einem dunklen Holz, welches Temüdschin noch nie zuvor gesehen hatte. Der Griff war mit ziseliertem Gold geschmückt, die Sehne aus einem dünnen, unheimlich reißfesten Garn gemacht. Als Temüdschin hoch oben über sich einen Adler schweben sah, zog er aus einer Eingebung heraus einen Pfeil und schoss auf den Vogel. Mit einem Surren überbrückte der Pfeil die Entfernung und Temüdschin sah, wie der Adler getroffen vom Himmel stürzte.
Der Bogen musste etwas Magisches an sich haben und jetzt besaß er, Temüdschin, ihn! Wer sollte sich ihm entgegenstellen, wenn er einmal Khan der Mongolen wäre, wer auf der ganzen Welt?! Er hätte die Horde hinter sich und außerdem einen Bogen, die jedes beliebige Ziel sicher traf!
Temüdschin wusch mit Wasser aus seiner Feldflasche seine Wunden, dann ging er zu dem Riesenwolf und begann damit, ihm das Fell abzuziehen, ohne das man ihm seine Geschichte niemals glauben würde.
Es wurde immer heller, als Temüdschin den Heimweg antrat. Der silberne Mond hatte den aufbrechenden Stammesführer begleitet, als er losgezogen war, doch nun kehrte die strahlende Sonne mit einem neu geborenen Helden zurück. Der Mann, der später ein reich gründen sollte, das sich von der Ukraine bis China erstreckte, der Anführer der Mongolen: Dschingis Khan.
Temüdschin einte 1190 die Stämme der Mongolen und unterwarf die umgebenden Sippen, führte Kriege und Plünderungen durch. 1206 wurde er von Schamanen und Stammesführern zum Dschingis Khan ernannt. In den darauf folgenden Jahren nahm er China ein. 1220 waren die Mongolen unter Dschingis Khan bereits bis Südrussland vorgedrungen und gelangten 1223 bis in die Ukraine.
Der Bogen des Khan, als welcher die Waffe, mit der er den Schrecken von Tian-Shan tötete, begleitete ihn auf seinen zahlreichen Feldzügen und rettete ihm in mancher gefahrvollen Situation das Leben.
Seit Dschingis Khans Tod 1227 gilt der Bogen als verschollen, doch mutmaßen manche, dass ein Venezianer namens Marco Polo ihn in Yangzhou fand und als chinesisches Schmuckstück nach Europa brachte. Wie der Bogen jedoch von der Inneren Mongolei an die Ostküste Chinas gelangt sein soll, weiß niemand zu erklären. Nach Marco Polos Tod gelangte der Bogen in ein Kloster. Seine Spur verschwand in den Wirren des Schwarzen Tods 1349.